Paul Hindemith
Vorschläge für den
Aufbau des türkischen
Musiklebens
Als Kemal Atatürk
1923 die Türkische
Republik ausrief,
gehörte für ihn
auch die kulturelle
Annäherung an die
westliche Moderne
zu seinen wichtigsten Zielen. Und
gerade die Erneuerung des Musik-
schul- und Konzertwesens lag ihm
besonders am Herzen. Ab 1924
lud er daher aus Deutschland und
Österreich Pädagogen und Kom-
ponisten ein, Ausbildungskonzep-
te zu erarbeiten und am Aufbau
etwa eines Konservatoriums und
türkischen Opernlebens mitzu-
wirken. Über den Mittelsmann
Wilhelm Furtwängler konnte so
1934 Paul Hindemith für dieses
ehrgeizige Projekt gewonnen wer-
den.
Vier Mal, von 1935 bis 1937,
reiste er so für jeweils mehre-
re Wochen in die Türkei, um sich
vor Ort über das Musikleben zu in-
formieren. Und dass es eine Men-
ge zu tun gab, dokumentieren die
drei von Hindemith minutiös aus-
gearbeiteten Berichte, die jetzt als
Faksimile veröffentlicht wurden.
Die Orchesterinstrumente wa-
ren in einem katastrophalen Zu-
stand. Der Unterricht war „tadels-
wert“. Und neben den wichtigen,
aber mit enormen Zöllen belegten
Unterrichtsmaterialien aus dem
Ausland war Hindemith auch die
exorbitante Besteuerung von Kon-
zerten ein Dorn imAuge, die einen
florierenden Konzertbetrieb nach
westlichem Vorbild im Keim er-
stickte.
Aber Hindemith legte eben
nicht nur den Finger in die zahllo-
sen Wunden, sondern erarbeitete
Rainer Hüls/Martin
Schaarschmidt
Hearing Stories – Ge-
schichte, Gespräche und
Gedichte über das Hören
„Sie haben Ohren
und hören nicht“,
heißt es im Buch
der Psalmen. Viel-
leicht ist es ein Zitat
wie dieses, das die
Autoren Rainer
Hüls und Martin Schaarschmidt
zu dem großen Streifzug durch die
Welt des Hörens inspirierte. Wir
erleben lesend die Welt von Klang-
künstlern und Stimmtrainern,
von Geräuschemachern und Kom-
ponisten. Legendäre Schicksale
wie Beethovens Taubheit fehlen
nicht, es gibt auch interessante
Einblicke in die Hörwelt anderer
großer Persönlichkeiten: So erfah-
ren wir, dass die Schauspielerin
Jodie Foster nach einer Virusinfek-
tion mehr als die Hälfte ihres Hör-
vermögens verlor und stolz ein
Hörgerät trägt, dass der Dirigent
Wilhelm Furtwängler vor Angst
Beethovens Schicksal zu erleiden,
vergeblich versuchte, mit Hilfe
technischer Unterstützung zu di-
rigieren – und sich dann absicht-
lich eine tödliche Lungenentzün-
dung zuzog. Immer wieder trifft
man beim Lesen auf die Verherrli-
chung des Hörens, wie es in vielen
Gedichten, von der Frühromantik
bis Hesse und darüber hinaus in
Worte gefasst wird. Und wer ange-
sichts so schöner Worte über das
„Horchen auf die vielerlei Stim-
men“ (Hesse) ein Gefühl des un-
wiederbringlichen Verlustes emp-
findet, dem sei das Interview mit
dem Hörkünstler Sam Auinger
ans Herz gelegt, der eine neue Kul-
tur des Hörens einfordert und mit
seinen Arbeiten umsetzt. Manche
Völker haben ja den emotionalen
Bezug zum Hören nie verloren.
Zum Beispiel die Italiener: Bei ih-
nen ist „Hören“ und „Fühlen“, das-
selbe Wort – „sentire“. Ich höre,
also fühle ich – und umgekehrt.
Oliver Buslau
Innocentia Verlag, 390 S., € 16,90
Gottfried Wagner
Du sollst keine anderen
Götter haben neben mir
Ich höre sie schon
aufschreien. All die
Wagner-Adepten,
die ihr Idol durch
dieses Buch be-
schmutzt und besu-
delt wähnen. Wo
doch der in diesem Jahr so über-
reichlich gefeierte Bayreuther
Meister dafür recht gut selbst
sorgte. Urenkel Gottfried Wagner
schlüsselt es nur auf. Hatte er in
seiner 1997 erschienenen Auto-
biografie „Wer nicht mit demWolf
heult“ die Fehden, Ränke und Le-
benslügen seiner Familie und ihre
Verflechtung mit dem NS-Regime
in den Vordergrund gestellt, so
nimmt er jetzt als Musikhistoriker
die Weltanschauung seines Ur-
großvaters genauer unter die
Lupe. Keine Biografie mithin, son-
dern eine nach unterschiedlichen
Aspekten wie „Der Zocker und
Schnorrer“, „Der Karrierist und In-
trigant“, „Der Frauenverächter“,
„Der Rassenantisemit“ (um nur
einige zu nennen) geordnete We-
sensanalyse, ein scharfsichtiger
Charaktereinblick. Der Komponist
wird vom Podest gehoben, um ihn
aus der Nähe betrachten zu kön-
nen, es wird Klartext geredet und
nichts beschönigt oder verklärt.
Das ist sehr erfrischend, ein wah-
rer Genuss, endlich einmal keine
Hagiografie vorgesetzt zu bekom-
men. Menschen sind nun einmal
keine Heiligen, noch viel weniger
geniale Künstler, bei denen Ego-
manie oftmals eine Vorausset-
zung ist, um Außerordentliches
schaffen zu können. Warum sollte
gerade Wagner eine Ausnahme
bilden? Wer liebt, verträgt auch
die Wahrheit. Und die hat be-
kanntlich immer zwei Seiten.
Weshalb es nicht verkehrt ist, eine
weitere Meinung einzuholen.
Aber die erste sollte die von Gott-
fried Wagner sein. Pflichtlektüre
für jeden, der sich ernsthaft mit
Wagner auseinandersetzen möch-
te – und definitiv der wichtigste
Beitrag zum Jubiläumsjahr.
Michael Blümke
Propyläen, 304 S., € 19,99
genauso viele Verbesserungsvor-
schläge, von denen selbst heute
noch hiesige Kulturpolitiker etwas
lernen können.
Guido Fischer
Staccato, 200 S., € 30,00
Karl Löbl
Der Balkonlöwe
1998 stand Karl
Löbl ein letztes Mal
auf dem Balkon
eines Wiener Mu-
sentempels und
sprach aus dem
Stand heraus seine
Premieren-Kritik in die Kamera
des ORF-Fernsehens. Elf Jahre
lang hatte Löbl diese Kunst der
Spontan-Rezension beherrscht,
bei der er in zweieinhalb Minuten
topquotenträchtig Fachkenntnis
mit Gespür fürs unterhaltsam
Pointierte verknüpfte. Bevor Löbl
1987 auf TV-Sendung ging, war er
in Österreich als Musik- und Thea-
terkritiker längst eine Institution,
die branchenüblich geliebt und
gehasst wurde. Heute ist der ge-
bürtige Wiener bereits über Acht-
zig und hat dementsprechend ei-
niges zu berichten aus seinem
weiterhin aktiven Chronistenle-
ben. Und auch in seiner Autobio-
graphie hat sich Löbl den völlig
uneitlen, zuweilen äußerst salop-
pen Ton bewahrt, der ihn wohltu-
end von manchem selbstverlieb-
ten Starkritiker-Kollegen unter-
scheidet. Löbl schreibt da genauso
offenherzig, aber nie mit nach-
träglich ausgefahrenen Ellenbo-
gen über so manche Niederlagen
wie über seine großen Vorbilder
im Journalismus und aktuellen
Lieblingssänger. Und selbst seine
Rückblicke hinter die Opern-Ku-
lissen und Erinnerungen an die
Begegnungen mit allerlei Promi-
nenz von Bernstein über Will
Quadflieg bis Anja Silja und Kara-
jan bieten keinerlei Stoff für skan-
dalgierige Schlüssellochgucker.
Vielmehr schwingt immer das
durch, was sich Löbl über Jahr-
zehnte hinweg bewahrt hat: es ist
schlicht und einfach seine Liebe
zur Musik.
Guido Fischer
Seifert, 216 S., € 24,90
Bücher
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