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Klass i k
wählt, die man vorrangig in dem
sogenannten „Durham Manu-
script“ entdeckt hat. Diese aus 44
Stücken bestehende Notensamm-
lung befindet sich in der Biblio-
thek der im Nordosten Englands
gelegenen Kathedrale von Dur-
ham und wurde vermutlich zwi-
schen 1675 und 1680 angelegt.
Dieses Konvolut ist nicht nur eine
Fundgrube für Musikwissen-
schaftler, die sich mit den Schnitt-
stellen zwischen der englischen
und italienischen Musik im 17.
Jahrhundert beschäftigen wollen.
Wie La Sainte Folie Fantastique
jetzt beweisen kann, ist es eine
Goldgrube.
Guido Fischer
Franz Schubert
Licht und Liebe – Lieder
und Vokalquartette
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Marlis Petersen,
Anke Vondung,
Werner Güra,
Konrad Jarnot,
Christoph Berner
harmonia mundi
(65 Min., 10/2011)
Zum dritten Mal tritt das „All-
Star-Quartett“ aus Marlis Peter-
sen, Anke Vondung (bzw. Stella
Doufexis), Werner Güra und Kon-
rad Jarnot mit einem Ensemble-
Programm in Erscheinung. Nach
Brahms‘ „Liebesliederwalzern“
und Schumanns „Spanischen Lie-
dern“ ist nun Franz Schubert mit
Liedern und Vokalensembles das
Thema – ein Repertoire, das (wie
Beiheftautor Roman Hinke kri-
tisch anmerkt) beliebte Schu-
Gamben und Cembali durchfors-
teten. Doch es braucht eben Zeit,
bis nicht nur das Spiel auf den
Klang-Antiquitäten in Herz und
Blut übergangen ist, sondern vor
allem der Geist der Musik. Und
erst dann beginnt sie wirklich zu
atmen, zu duften, zu betören. Ge-
nau diese Qualität besitzt das
Miteinander des jungen franzö-
sischen Quartetts La Sainte Fo-
lie Fantastique. Bereits während
ihrer Studienzeit haben sich der
Violinist, die Gambistin, der Orga-
nist bzw. Cembalist und der Lau-
tenist zusammengetan, um ihrer
Passion für die Alte Musik nach-
zugehen. Nun liegt das Debüt-
Album des Ensembles vor. Und
wenngleich eigentlich das sich
aus zahllosen Raritäten zusam-
mensetzende Programm der Star
sein sollte, sind es die vier Musi-
ker. Was die Linienführung, Verve
und Aufhellung der Satzstruktu-
ren angeht, aber auch den Sinn
fürs melodisch Umschmeichelnde
und Seligmachende, schafft man
an den scheinbar ewig jungen his-
torischen Instrumenten aus dem
Stand Großes, Bewundernswertes.
Andererseits kann man sich
vielleicht nur zu solchen Höchst-
leistungen aufschwingen, wenn
die Noten die entsprechenden
Steilvorlagen bieten. Erstaunli-
cherweise haben La Sainte Folie
Fantastique nun Werke von Kom-
ponisten ausgegraben, die nur
noch absoluten Insidern ein Be-
griff sind. Dazu gehören der deut-
sche Gambist Dietrich Stoeffken
sowie die Engländer John Jenkins
und Henry Butler. Von ihnen und
weiteren Zeitgenossen wie Wil-
helm Brad hat man Sonaten, Sui-
tensätze und Solo-Stücke ausge-
le Klangvision der dünn wirkende
Satz mit all seinen Farb- und Re-
gisterwechseln birgt.
In der früheren G-Dur-Sona-
te K. 283 träumte Mozart noch
nicht über die Holzrahmen sei-
ner bescheidenen Instrumente hi-
naus. Bezuidenhout spielt das im-
mer noch anfängergeschädigte
Werk zurückgenommener, ja der
marschhaft hingetüpfelte Beginn
des C-Dur-Andantes scheint jedes
Harmlosigkeits-Klischee zu bestä-
tigen. Doch wollte schon Mozart
seine Hörer ein wenig täuschen
und führt sie in der Durchführung
in unerwartet ernste, mollverdun-
kelte Verhältnisse. Bezuidenhout
übersteigert diesen Effekt noch,
indem er den geradezu extrater-
restrisch entrückten E-Dur-Ak-
kord subtil ergänzt, in den diese
Durchführung mündet, bevor Mo-
zart chromatisch-knirschend ins
C zurück strebt. Das mag so nicht
im Urtext stehen, aber es offen-
bart die kühne Poesie des längst
noch nicht rehabilitierten frühen
Klavierwerks.
Matthias
Kornemann
My Precious Manuscript
Barockwerke von Hen-
ry Butler, John Jenkins,
Dietrich Stoeffken u.a.
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La Sainte Folie
Fantastique
Alpha/Note 1
(67 Min., 9/2012)
Nichts gegen die Pioniere, die vor
einem halben Jahrhundert auch
die Kammermusik mit ihren
Wolfgang Amadeus
Mozart
Klaviermusik Vol. 4
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Kristian Bezu-
idenhout
harmonia mundi
(71 Min., 10/2011)
Den satten, seiner knirschenden
Geschichtlichkeit weitgehend ent-
kleideten Klang, in den Kristian
Bezuidenhout die vierte Folge sei-
ner Mozart-Werkschau hüllt, er-
zeugt er mit einem Instrumenten-
typ, dem Beethoven seine „Sturm-
Sonate“ zugedacht hat – dem
Nachbau eines Walter-Flügels von
1805. Dank dieses historisch „in-
formierten“ Anachronismus’ er-
fährt man etwas über die drama-
tische Evolution des Klavierbaus
imWien um 1800. Von einem sol-
chen Brummer konnte Mozart nur
träumen; der Flügel von 1795, den
Bezuidenhout für die erste Folge
wählte, wäre ihm wohl deutlich
vertrauter vorgekommen.
Hinter diesem instrumenten-
geschichtlichen Vorhang besticht
Kristian Bezuidenhout erneut mit
sehr gelöst und undogmatisch
wirkendemMusizieren, frei in den
Tempi, pointiert und geschmack-
voll bei den eigenen Auszierungen
und vor allemmodern in der Wür-
digung des lange Zeit verschütte-
ten opernhaften Geistes, der Mo-
zarts Klaviermusik mit all ihren
empfindsamen Drückern, Seuf-
zern und gleißenden rhetorischen
Wendungen durchzieht. Die D-
Dur-Sonate KV 311 sprüht nicht
nur im Geiste der Opera buffa, wir
erkennen auch, welche orchestra-
R. W. - V E N E Z I A
C H O P I N L I S Z T W A G N E R
J A N F L O R I O
P M Y
Franz Liszt
R. W. - Venezia S. 201
Frédéric Chopin
Barcarolle Fis-Dur op. 60
Mazurka f-moll op. 68/4
Nouvelle Étude Nr. 2 As-Dur
Berceuse Des-Dur op. 57
Prélude cis-moll op. 45
Nocturne H-Dur op. 62/1
Franz Liszt
La lugubre gondola S. 200/2
Richard Wagner
arr. Joseph Rubinstein
Parsifal und die Blumenmädchen
Karfreitagszauber
Franz Liszt
Am Grabe Richard Wagners S. 202
P M Y
Wenn ich ein anderes Wort für Musik suche,
so finde ich immer nur das Wort Venedig.
Friedrich Nietzsche
R. W. - Venezia
Jan Florio, Klavier
PMY 102 / EAN 0610098109