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Ludwig van Beethoven
Diabelli-Variationen op.
120, Bagatellen op. 119
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Daniel-Ben
­Pienaar
Avie/Musikwelt
(68 Min., 9/2011)
Wer hören wollte, konnte seit der
spektakulären Aufnahme der Kla-
viersonaten Mozarts in Daniel-
Ben Pienaar einen der aufregends-
ten Pianisten seiner Generation
erkennen, aufregend, weil da einer
Mozarts theatralische Gesten mit
einer allen Stilkonventionen spot-
tenden Freiheit ausspielte, ohne
sich in diesem atemberaubend
weiten Ausdruckskosmos im Be-
liebigen zu verlieren. Und so gerät
auch sein Weg durch den Raum
der Diabelli-Variationen zu einem
regelrechten Abenteuer, so rück-
sichtslos folgt der Südafrikaner
den jähen Bewegungsumschwün-
gen und erzeugt in jeder Variation
unerhört interessante Gegenwart,
völlig ungerührt, ob er damit ir-
gendeine hypothetische stilisti-
sche Konsistenz zerstören könnte.
Wir aber erkennen zunächst
nur Einzelnes, Verblüffendes;
wie Lavageschosse fliegen einem
die Akkorde der Nr. 10 um die
Ohren, nicht minder elektrisie-
rend gerät der Presto-Galopp der
Nr. 15, in deren Basslinie wunder-
bar platzierte „Sprengsätze“ zün-
den. Gegensätze werden ins Ex-
treme – und extrem Schlüssige!
– getrieben, wenn er mächtig fe-
dernde Bassoktaven zum gewalt-
sam treibenden Motor der Nr.
17 macht, die folgende Variation
(„poco moderato“) indes bedäch-
tig ausbreitet wie ein Brahms-
sches Intermezzo – und so geht
das auch weiter. Technisch bra-
vourös (man höre die haklige Nr.
19) werden Bewegungsmuster he-
rausgeschält, deren Richtung uns
verwirrt. In seinem der pianisti-
schen Qualität ebenbürtigen Be-
gleitessay sagt es Pienaar sehr
schön: „So haben wir also oft das
Gefühl, dass, egal wie stark eine
Variation vorwärts strebt, die all-
gemeine Richtung auch aufwärts
führt: ein Rausch nach oben, eine
enorme Anstrengung, ein leich-
tes Klettern (…) oder ein plötzli-
cher Spurt.“ In diesem Geist wirft
er uns bis an die Grenzen dieses
unermesslichen musikalischen
Kosmos. Das mag uns unbehag-
lich sein, anstrengend, allzu rück-
sichtslos. Aber wir müssen wieder
hören. Er zieht uns in dieses Werk.
Könnte Interpretation Größeres
leisten?
Matthias Kornemann
Ludwig van Beethoven,
Robert Schumann
Variations (Eroica-Va-
riationen op. 35, Sinfoni-
sche Etüden op. 13 u. a.)
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Emanuel Ax
Sony
(72 Min., 6/2012)
Emanuel Ax’ Karriere verläuft seit
Jahrzehnten in derart solide-un-
aufgeregten Bahnen, dass man
fast vergessen könnte, was für ein
großer Pianist er doch ist. So mag
es einem auch mit dieser CD ge-
hen. Verglichen mit donnernd
selbstgewissen Versionen wirken
seine „Eroica-Variationen“ gerade-
zu gefällig, gezähmt und plüschig.
Dieses Stück kommt meist als
trotzig gehämmerter Kraft-Beet-
hoven daher, dessen schattenlo-
se Architektur das Publikum mit
einem gewissen Interesse, aber
ohne sonderliche Freude durch-
wandert. Dem setzt Ax eine Welt
des Dämmerlichts und der Zwei-
fel entgegen, zart um jenen Do-
minantseptakkord entworfen, auf
dem das Thema im dreizehnten
Takt einfach stehenbleibt. Das un-
erhört abwechslungsreich kom-
ponierte „Echo“ dieser Fermate
wird so etwas wie Ax’ fein ausge-
sponnener roter Faden durch die-
ses Werk. Von der allerersten, nur
die Bassstimme abhandelnden
Klassik-CD des Monats
Vincenzo Bellini
Norma
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Cecilia Bartoli, Sumi Jo, John Osborn, Michele Pertusi,
Giovanni Antonini, Orchestra La Scintilla, Decca/Universal (2CDs, 142
Min., 2012)
Nichts weniger als eine Revolution ist es, die
Cecilia Bartoli und ihr Team mit dieser Auf-
nahme versprechen: Erstmals sei Bellinis
Erfolgsoper aus demJahre 1831 imOriginal-
klang zu hören. Und dazu gehören nicht nur
historische Instrumente wie etwa eine Holz-
traversflöte für die berühmte Arie „Casta
Diva“, sondern vor allem auch die ursprüng-
lichvorgesehenenStimmfarben. Schließlich
war die erste Norma, Giuditta Pasta, nach heutigen Begriffen ein Mezzo-
sopran, während ihre Nebenbuhlerin Adalgisa von einemhellen, jugend-
lich klingenden Sopran gesungen wurde. Die Partitur wurde wiederum
von Maurizio Biondi und Riccardo Minasi neu ediert, wobei neben dem
Entfernen von späteren Retuschen insbesondere auch die originale
Orchestrierung und die ursprünglichen Temporelationen wiederher-
gestellt wurden. Deklamation und die üppigen Verzierungen wiederum
sollen die Emotionen der Protagonisten in ihren Schattierungen nach-
zeichnen.
Das ambitionierte Konzept geht auf allen Ebenen auf: Bellinis Or-
chestersatz glänzt nicht nur in den vielfältigsten romantischen Farben,
sondern wirkt auch wesentlich komplexer, transparenter und differen-
zierter, als dies in Einspielungen mit modernen Klangkörpern der Fall
ist. Und all das ist nur ein Spiegel des Gesangsstils, der sich hier in einer
ungeahnten Textverständlichkeit und einer Überfülle von fein abgestuf-
ten Emotionen entfaltet und sofort begreiflich werden lässt, warum Bel-
linis Belcanto der missing link zwischen der Kunst der barocken Kastra-
ten und der kantablen Dramatik eines Giuseppe Verdi ist. Cecilia Bar-
toli, die in barocken Partien nicht immer frei von Manierismen wirkte,
ist hier ganz in ihrem Element: Hier gibt es keinen Spitzenton, der nicht
auch eine individuelle emotionale Färbung besäße und kein Portamen-
to ohne dramatische Berechtigung – kurz: eine Norma, die in jedem Ton
nicht nur ganz Diva, sondern auch ganz Mensch ist.
Carsten Niemann
 Abonnenten-CD: Track 3
KLASS I K
K
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