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dicken Patina zu befreien, die
sich in den letzten 150 Jahren an-
gesammelt hat. Immer größere
Säle und Orchester, die damit ein-
hergehende Bevorzugung von
Brillanz und Kraft gegenüber
Farbe und Ornament und eine
naturalistischere Auffassung von
Musikdramatik haben dazu ge-
führt, dass das Wissen um die
Aufführungspraxis des Belcanto
beinahe völlig verloren ging.
Hinzu kommt, dass sich auch die
Stellung des Sängers grundsätz-
lich wandelte: Während Rossini,
Bellini und Donizetti noch damit
rechnen konnten, dass die Sänger
ihre Partien mit improvisierten
Verzierungen und ungeschriebe­
nen Vortragsnuancen berei­chern
und die Partitur bei jeder Auf-
führung gewisserma­ßen neu voll-
enden würden, sind die meisten
heutigen Sänger zu bloßen Inter-
preten geworden. Was bleibt, ist
der nackte, unvollendete Noten-
text. Doch zu retten ist die
Belcanto-Opern nur, wenn man
sich ihr nicht vom Puccini und
dem späten Verdi, sondern aus
der Perspektive des 18. Jahr-
hunderts nähert. Denn die Ge-
sangskunst der Kastraten, welche
der Barockoper zu ihrem bis heute
ausstrahlenden Glanz verhalf,
hat auch die Praxis der Belcanto-
Opern entscheidend geprägt. Es
dramatischen Verflachung ge-
wesen sein muss. Was ein fataler
Fehlschluss wäre.
Opfer der Tradition
In
Wahrheit
nämlich
sind
die Hauptwerke des Belcanto
Opfer moderner Aufführungs-
traditionen
geworden.
Und
die haben mit dem Ideal des
„schönen Gesangs“, der den
Schöpfern der Belcanto-Opern
vorschwebte, nur noch sehr wenig
zu tun. Doch nun deutet sich end-
lich eine Wende an. Unterstützt
von der Musikwissenschaft hat
sich eine Reihe von Musikern an-
geschickt, den Belcanto von jener
dürftigen Orchesterakkorden ent-
faltet, wie oft zuckt man inner-
lich vor stählernen Spitzentönen
zusammen und wie peinlich ist
man dann wiederum berührt,
wenn sich Gefühl in schmierigen
Kantilenen ergießt. Gehört man
nicht gerade zu jenen fanatischen
Stimmverkostern, die Lautstärke,
Timbre oder Brillanz eines außer-
gewöhnlichen Organs völlig los-
gelöst von der dramatischen
Situation genießen können, dann
kann man zu der Auffassung ge-
langen, dass die Zeit des Belcanto
trotz ihrer zündenden Melodien
und staunenswerten Anfor­derun­
gen an Stimme eine Zeit der
I
m Grunde hat man es ja
schon immer geahnt, dass
etwas nicht stimmen kann
mit der Oper des Belcanto.
Denn auch wenn Rossini, Bellini
und Donizetti, deren Werke man
als erstes mit dem Begriff ver-
bindet, in jedem Opernführer und
fast jedem Opernhaus zum Kern-
repertoire gehören, so scheinen
doch viele ihrer ersten Haupt-
werke im Vergleich zu Mozart
oder zum späteren Verdi an
einem merkwürdigen Mangel
an dramatischer Glaubwürdig-
keit zu leiden: Wie oft ist man
abgestoßen von der sterilen
Stimmakrobatik, die sich über
Foto: Hans Jörg Michel
Belcanto-Bekehrung 
Norma von vorn
Eine „Norma“ in historischem Klanggewand ­beweist:
Belcanto-Opern des frühen 19. Jahrhunderts sind viel
besser als ihr Ruf.
Von
Car sten Ni emann
Feuriges Ende
verrümpelter
­Aufführungs-
traditionen
(Salzburger
Pfingstfestspiele
2013: Bartoli,
Osborn)
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