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David Bates
Niemand ist eine Insel
In Großbritannien ist die Alte-Musik-Szene
bekanntlich so alt ist wie die Alte Musik
selbst – schließlich führte man hier schon im
Barock Werke vergangener Epochen auf. Doch
ebenso groß wie die Tradition ist inzwischen
auch die Verführung, sich auf den Lorbeeren
der historischen Aufführungspraxis auszu-
ruhen. Denn während etwa die alte Tradition
des englischen Kathedralgesangs half, die
romantische Aufführungspraxis zu hinter-
fragen, so ist sie andererseits nicht immer hilf-
reich, wenn es beispielsweise darum geht, die
Emotionalität des aus Italien kommenden
barocken Belcanto zu erfassen.
Als David Bates vor fünf Jahren das
Ensemble „La Nuova Musica“ gründete, nahm
er sich daher vor, es sich nicht einfach auf
der Insel bequem zu machen. „In den letzten
zehn Jahren hat sich auf dem Kontinent viel
bewegt“, sagt Bates, „und ich habe das Ge-
fühl, dass manche Ensembles ein bisschen
den Anschluss verpassen.“ Es sei daher gut,
sich an die multinationalen Einflüsse zu er-
innern, welche das britische Musikleben
im 17. und 18. Jahrhundert geformt hätten:
„Wie die Elstern“ seien die Briten damals ge-
wesen: „Wir haben uns das Beste aus den ver-
schiedenen Nationen zusammengepickt und
in unser Nest getragen“. Genau das tat David
Bates auch – und bringt mit dem europäisch
zusammengesetzten Ensemble La Nuova
Musica frischen Wind in die Szene: Einerseits
frönt das Ensemble mit Klarheit, Präzision
und dem Verzicht auf vordergründige Effekt-
hascherei sehr wohl traditionellen britischen
Tugenden. Ungewöhnlich ist dagegen die Ent-
schiedenheit, mit der Bates und seine Musiker
die rhetorische Bildhaftigkeit, die Emotionali-
tät und die dramatische Seite der Musik des
Barock und der Renaissance zulassen und
dabei auch die einzelne Sängerpersönlichkeit
wieder stärker ins Zentrum rücken. Dass Bates,
der seine Karriere als Countertenor begann,
mit Sängern von Lucy Crowe bis hin zu Tim
Meads eine ganze neue, junge Generation von
„barocken Belcantisten“ um sich versammeln
konnte, spricht dafür, dass womöglich eine
neue wichtige Aufführungstradition aus
seinem Elsternest entstehen könnte.
Neu erschienen:
Händel, Vivaldi: Dixit
Dominus
(mit Lucy Crowe, La Nuova Musica),
harmonia mundi
 Abonnenten-CD: Track 6
Dobrinka Tabakova
Vergangenheit mit Folgen
Seit ihrem elften Lebensjahr lebt
die Bulgarin Dobrinka Tabakova
in London. Also mittlerweile zwei
Drittel ihres Lebens. Und in dieser
Zeit hat die heute 33-Jährige
nicht nur an den renommierten
Musik-Colleges Komposition, Kla­
vier und das Dirigentenhand-
werk studiert. Den letzten Fein-
schliff bekam sie in Meisterklas­
sen selbst von den radikalen
An­tipoden John Adams und Iannis
Xenakis. Die musikalisch westli­
che Sozialisation hört man dem-
entsprechend Tabakovas äußerst
umfangreichem und mit Preisen
ausgezeichnetem
Werkkatalog
mehr als nur vordergründig an.
Aufge­peitscht von minimalisti­
schem Furor zieht etwa der Solist
in ihrem Cellokonzert seine Bah­
nen. Und auch das Streichersep­tett
„Such Different Paths“ entwickelt
über rhythmisches Dauerpulsieren
einen geheimnisvollen Sog.
Schon diese beiden Stücke
deuten an, dass hier eine zeit-
genössische Komponistin nicht
mit dem Kopf durch die Neue
Musik-Mauer will, sondern wach-
rüttelnde Energien auch aus
tonalen Reibungen zu erzeugen
versteht. „Meiner Meinung nach
kann jeder Komponist etwas Neues
schaffen, wenn er sich Vertrautem
einfach aus einem anderen Blick-
winkel nähert.“ Dieser Satz sagt
einiges
über
Tabakovas
un-
verkrampftes
Verständnis
von
aktueller Musik aus. Und damit ist
sie nicht zuletzt bei Gidon Kremer
auf offene Ohren gestoßen, der
die Komponistin etwa bei seinem
Lockenhaus-Festival
protegiert
hat. Dort hörte auch der Gründer
des ECM-Labels, Manfred Eicher,
ihre neoklassizistische „Suite In
Old Style“ und fasste daraufhin den
Plan, Tabakova eine Porträt-CD zu
widmen.
Nun ist sie erschienen: Die
allesamt
weltersteingespielten
Stücke stammen aus dem Zeit-
raum 2002-2008. Und bereits zu
Beginn wird einem bei dem tief-
melancholischen
Streichtrio
„Insight“ klar, warum Dobrinka
Tabakova von den Schnittke- und
Kancheli-Fans Kremer und Eicher
in ihren Seelenverwandtenkreis
aufgenommen worden ist. Denn
wenngleich sie seit 22 Jahren in
London zuhause ist, ist ihre ost-
europäische Herkunft unüber-
hörbar geblieben. Und so sind es
diese archaische Askese sowie
meditative Strenge, die das
eigentlich faszinierende Herz-
Rhythmus-System von Tabakovas
Musik bilden.
Guido Fischer
Neu erschienen:
Dobrinka Tabakova:
String Paths
(Rysanov,
Jansen, Lithuanian
Chamber Orchestra u. a.),
ECM/Universal
David
Bates
Dobrinka
Tabakova
1...,8,9,10,11,12,13,14,15,16,17 19,20,21,22,23,24,25,26,27,28,...52