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einen jungen Herrn. Der Skandal
war perfekt.
Von dem Tumult von einst hat
sich das edle Haus in der Avenue
Montaigne natürlich längst er-
holt. Und Strawinskis Werk zählt
zu den meisteingespielten Ever-
greens der klassischen Moderne
(aktuell führen die CD-Kataloge
rund 130 Einspielungen). Ange-
sichts seiner tiefen Verwurzelung
in der russischen Volksmusik
sowie der fehlenden Komplexi-
tät in der Harmonik hinkte „Le
sacre du printemps“ zu seiner
Entstehungszeit
eigentlich
schon hinter den Revolutionen
her, die Claude Debussy und die
Wiener
Zwölftonkollegen
aus-
gelöst hatten. Doch mit seiner
„Emanzipation des rhythmisch
Percussiven“ schuf er Musik
von einer geradezu primitiven
Urgewalt, die das Archaische
im
Menschen
anzusprechen
scheint. Bei aller komplexen Poly-
rhythmik, auf die später eben-
falls Bartók, Varèse und Xenakis
setzten, wird man instinktiv
vom scheinbar Vertrauten an-
gezogen. Wohl auch deshalb gilt
Strawinskis „Frühlingsopfer“ als
zeitloser Meilenstein der Musik-
geschichte, der dementsprechend
anlässlich des 100. Jahrestages
seiner Uraufführung umfassend
vom CD-Markt gewürdigt wird.
Publikumsexplosion. „Schon bald
nach dem Aufgehen des Vorhangs
begann man zu miauen und laut
Vorschläge für den Fortgang der
Vorstellung zu machen“, so der
Musikkritiker Carl van Vechten.
„Ein junger Mann, der hinter mir
in der Loge saß, stand während
des Balletts auf, um besser zu
sehen. Die starke Erregung, unter
der er litt, verriet sich darin, dass
er regelmäßig mit seinen Fäusten
auf meinen Kopf trommelte.
Meine Aufregung war so groß,
dass ich die Schläge eine Zeit lang
gar nicht spürte.“ Je länger die
Vorstellung dauerte, desto mehr
ging man auf die Barrikaden. Hier
duellierte man sich mit Schirmen.
Dort ohrfeigte eine feine Dame
alles richtig gemacht, als er Igor
Strawinski und die „Balletts
russes“ für den Mai einlud. Denn
dank der erfolgreichen Urauf-
führungen
von
Strawinskis
Balletten „Der Feuervogel“ (1910)
und „Pétrouchka“ (1911) galten
der Komponist und die Kompanie
in Paris als neue Sensation. „Aller
guten Dinge sind drei“, dachte
sich Astruc und engagierte nun
das Erfolgsteam, um Strawinskis
„Le sacre du printemps“ in der
Choreografie von Waslaw Nijinski
auf den Brettern des Théâtre des
Champs-Elysées aus der Taufe zu
heben. Bei der Generalprobe ver-
lief noch alles ruhig. Am 29. Mai
1913 aber, am Premierenabend,
erlebte das Haus eine einzige
A
m 31. März 1913
wurde auf der Pariser
Nobel-Avenue
Mon
taigne Nr. 15 das
Théâtre des Champs-Elysées mit
einem Festkonzert eingeweiht.
Auf dem Programm stand Hector
Berlioz´ „Benvenuto Cellini“. Und
auch der anwesende europäische
Hochadel zeigte sich hellauf be-
geistert. Der Eröffnungstusch für
die „Grande Saison“ war also ge-
glückt. Doch Intendant Gabriel
Astruc ahnte da noch nicht, dass
sein schmucker Art Déco-Tempel
bereits knapp zwei Monate später
in seinen Grundfesten erschüttert
werden sollte.
Dabei hatte Astruc bei seiner
Saisonplanung zumindest formal
Le sacre du printemps
Prähistorischer Jazz
Vor 100 Jahren wurde in Paris Igor Strawinskis „Le sacre
du printemps“ uraufgeführt – mit einem der größten
Skandale der Musikgeschichte.
Von
Gu ido F i scher
Le sacre du
printemps:
Rekonstruktion
im Mariinsky
Theater 2008
Foto: Bel Air